Man spricht zwar vom Fachkräftemangel – der kaum noch zu stillende Bedarf an Topkräften in der Wirtschaft ist aber längst eine Fachkräftekrise. Als Unternehmen müssen Sie im Wettbewerb um die besten Kräfte mit innovativen Lösungen punkten, beispielsweise mit Pooling und Pipelining.
Man stelle sich vor, ein deutsches Nationalteam, egal in welcher Sportart, fährt ohne Ersatzleute zu einer Weltmeisterschaft. Plötzlich fällt ein Teammitglied aus, und alle starken Alternativen sind wegen Urlaubs nicht erreichbar. Also telefoniert der Trainerstab hektisch herum und findet endlich jemanden aus der dritten Reihe, der die gebotene Chance dankbar ergreift. Leider ist das erste Spiel in Unterzahl längst verloren, und der Neuling entpuppt sich im weiteren Verlauf als bestenfalls mittelprächtige Hilfe. Und schon kann man das Turnier abschreiben, bevor es überhaupt richtig begonnen hat.
Ein undenkbares Szenario
Das stimmt – zumindest für den Sport. Aber es ist genau das, was in vielen Unternehmen geschieht, wenn es um das Thema zügige und qualifizierte Neueinstellung geht. Für viele Unternehmen beginnt die Zeitschiene von der Suche über die Kontaktaufnahme, die Einladung zum Gespräch und die Evaluierung bis zur Einstellung erst, wenn der Talentbedarf akut wird. Als wüsste man nicht, dass man regelmäßig Personal für neue Standorte benötigt, dass ein Abteilungsleiter jüngst und nur scheinbar unverbindlich wegen eines Vorruhestands angefragt hat oder dass es in der IT wie im Taubenschlag zugeht, weil Mitbewerber Programmierern und Administratoren jeden Tag unmoralischere Angebote machen
In der Praxis vergessen oder ignorieren Unternehmen viel zu häufig die wahre Zeitschiene der Talentgewinnung. Und dann stehen sie bei Verhandlungen mit dem Rücken zur Wand, weil es malwieder schnellschnell gehen muss.
Entsprechend oft greifen sie überteuert auf Kandidaten zurück, die keinen Unterschied zwischen ihnen und der Konkurrenz machen. Obwohl es genau darauf ankäme: Kräfte der Spitzenklasse, die im Management, in Innovation, Marketing, Vertrieb, Produktion, Service und Administration Qualitätssprünge auslösen.
Wer klug ist, baut vor und hat schon starken Ersatz in der Warteschleife, damit im akuten Fall nicht auf eine viel zu späte B- oder C-Lösung mit dem Risiko teurer Fehlbesetzung zurückgegriffen werden muss. Eine Musterlösung, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann, liefern etwa professionell gemanagte Sportvereine, die schon ihre Chancen bei großen Talenten ausloten, obwohl sie noch bestens aufgestellt sind. Oft beginnen sie bereits in den Jugendjahren der Talente damit, sie zu betreuen, mit Perspektiven zu locken und ihnen den roten Teppich auszurollen.
Anderes Beispiel: Der Cirque de Soleil soll seine Kontaktdatenbank in Spitzenzeiten mit 20.000 Artisten und Technikern gefüllt haben. Dieser Talent-Pool half ihm nach der auch pandemiebedingten Insolvenz, schnell wieder ein faszinierendes Programm aufzustellen und Geld einspielen zu können.

Talent-Pool für den Fall der Fälle: Fachkräftemangel kann für Unternehmen existenzbedrohend werden. Wer schon im Vorfeld potenziell geeignete Kandidaten in einer Datenbank sammelt, findet im Ernstfall schneller Ersatz.
Talent-Pool für den Fall der Fälle
Was Profisportclubs und der Cirque du Soleil können, ist auch für Mittelständler jeder Größe ein probates Mittel, die persönliche Fachkräftekrise zu überwinden. Talent-Pools sind Auswahllisten geeigneter Kandidaten, die entweder aus interner oder externer Quelle für eine zukünftige Rolle im Unternehmen in Frage kommen. Intern geht es darum, die eigenen Talente auf der Basis objektiver Potenzialanalysen für künftige Rollen und Positionen fit zu machen und Entwicklungspfade für sie zu schaffen. Das externe Pooling hat naturgemäß seine eigene Herangehensweise, und um die soll es im Folgenden gehen.
Die Vorteile des externen Poolings liegen auf der Hand: Zeit- und Kostenersparnis bei der Rekrutierung, ein verstärkter Zugang zu passiven Kandidaten auf dem Arbeitsmarkt sowie die perspektivreiche Kontaktpflege mit früheren Kandidaten, bei denen es seinerzeit nicht zu einer Anstellung kam. Hinzu kommen eine stärkere Position gegenüber starken Namen mit hohem Bewerberzustrom sowie dramatische Verbesserungen in der Wahrnehmung des Unternehmens durch Kandidaten mit entsprechenden Reputationsgewinnen. Kleinere Firmen, die eherlokal und regional aktiv sind, wählen ihren Aktionsbereich beim externen Pooling kleiner, größere werfen ihr Netz national und gegebenenfalls international aus.
In ihrer jährlichen Fachkräfteengpass-Analyse ermittelte die Bundesagentur für Arbeit eine durchschnittliche Vakanzzeit von 119 Tagen, bevor Stellen neu besetzt werden konnten. In diesen vier Monaten kann eine führungslose Abteilung komplett ins Chaos driften, wenn die Interimsleitung zu wenig qualifiziert oder im Paket mit anderen Aufgaben überfordert ist. Mit konsequentem Pooling kann diese Vakanzzeit erheblich, im Idealfall bis nahe Null reduziert werden. Bei den interessanten Kandidaten für das externe Pooling handelt es sich nicht um aktive Bewerber, weil bei der Kontaktaufnahme noch keine vakanten Stellen existieren, die den gebotenen Fähigkeiten und Erfahrungen entsprechen. Ebenso kann es sein, dass eine Position verfügbar, aber der Kandidat aktuell nicht wechselbereit ist.
In beiden und anderen denkbaren Fällen werden die spannenden Kontakte nicht fallengelassen, sondern aktiv weiter betreut. Der Vorteil der aktiven Pooling-Strategie liegt darin, dass der Talent-Relationship-Prozess nicht jedes Mal von Neuem beginnt, wenn Personal benötigt wird. Die Vorausplanung, wo und wann im Unternehmen regelmäßiger oder kritischer Mitarbeiterbedarf entsteht, erlaubt es, frühzeitig Beziehungen zu talentierten und qualifizierten Kandidaten innerhalb und außerhalb der Organisation zu knüpfen.
Auf diese Weise kann das Unternehmen bei einem neuen personellen Engpass schnell auf vorselektierte Kandidaten zugehen, die gerne über einen etwaigen Einstieg sprechen wollen. Mit einem gut gepflegten internen Talent-Pool gelingt das sogar noch schneller, weil die Mitarbeiter schon im Haus und bereits evaluiert sind.
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Buch Details
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Autorin
Nilgün Aygen -
Herausgeber
Wiley-VCH Verlag -
Sprache
Deutsch -
ISBN-10
352751113X -
Erschienen am
Oktober 8, 2022
Bücher

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Wichtig: Konkrete Zielvorstellungen
Damit Talent-Pools den erhofften Nutzen bringen, müssen diese bewusst und anhand einer konkreten Zielvorstellung aufgebaut werden. Jeder Pool ist auf einen bestimmten Stellentyp, eine Führungsebene oder ein erklärtes Geschäftsziel ausgerichtet. Regionalität ist hilfreich, aber heutzutage nicht das wesentliche Kriterium, wenn die passenden Topleute knapp und überall im Land verstreut sind. Um gezielt suchen zu können, fragen Sie sich beispielsweise:
- Wo liegen unsere geschäftlichen Prioritäten und mit welchen Arten von Talenten können wir sie erreichen?
- Welche Stellenkategorien oder Rollen profitieren am stärksten, wenn wir frei werdende Stellen aus einem Pool schnell besetzen könnten?
- Wo gibt es bei unseren aktuellen Teammitglidern Qualifizierungslücken (Skill Gaps)?
- Welche Zertifizierungen, Lizenzen oder Bildungsgrade benötigen wir auf den verschiedenen Ebenen des Unternehmens?
- Welche Kernkompetenzen sollen unser Team in den nächsten zwölf Monaten stärken und welche im Verlauf der nächsten fünf Jahre?
- Welche Merkmale oder Einstellungen zur Arbeit zeichnen die derzeitigen Top-Performer vor dem Rest der Belegschaft aus?
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An welchen Positionen ist eine größere Vielfaltan Erfahrungen, Hintergründen und Selbstentfaltung nützlich oder sogar direkt gewinnbringend?
Der erste Punkt wird in vielen Unternehmen sehr vernachlässigt, indem die nicht berücksichtigten Bewerber der letzten Einstellungen nicht automatisch zum Pool hinzugefügt werden. Zwar sagt man ihnen, dass man sich später über eine weitere Bewerbung freuen würde, über-lässt es aber ihnen, aktiv zu werden.
Wer weiß? Vielleicht war man ja das Traumunternehmen dieser Person, und sie ist nur zu froh, noch ein. mal eine Chance zu bekommen?
Und das auch, wenn sie aktuell schon gebunden ist. Die meisten Elemente dieser Sieben-Punkte-Liste verstehen sich intuitiv. Allerdings kann man nur dort Augen und Ohren offenhalten, wo man aktiv ist. Mit Ehemaligen-Netzwerken sind keine Alumni-Gesellschaften von Hoch-schulen gemeint, sondern gepflegte Verbindungen zu ehemaligen Teammitgliedern, mit denen man im Guten auseinandergegangen ist. Eine Vielfaltsinitiative zielt bewusst auf Menschengruppen, die man aus verschiedenen Gründen nicht automatisch und ausreichend in sein Talentmanagement einbezieht. Nach einer Studie der Boston Consulting Group verzeichnen global Unternehmen mit hoher Diversität 19 Prozent mehr innovationsbasierte Erträge und neun Prozent höhere EBIT-Margen als homogener aufgestellte Unternehmen. Es lohnt sich also, mehr Diversität zu wagen, was in Branchen mit besonderem Fachkräftemangel ohnehin unausweichlich ist.
Die sozialen Medien nehmen insofern eine zentrale Rolle ein, als sie ein fast unerschöpflicher Fundus an Talenten sind – wenn es jemanden innerhalb oder außerhalb des Unternehmens gibt, der sich der zeitaufwändigen Recherche widmet. Ob das in Voll- oder Teilzeit oder als Teilaufgabe eines auch anderweitig beschäftigten Mitarbeiters geschieht, hängt von der Größe des Unternehmens und vom Umfang des Personalbedarfs ab.

Vom Talent-Pool zur Anstellung
Talent-Pipelines sind die Mechanismen, durch die aus den Mitgliedern von Talent-Pools Firmenangehörige und Teammitglieder werden. Aus den Namen auf einer Liste werden qualifizierte Kandidaten, die rasch in unternehmenskritische Rollen schlüpfen können, die geplant oder unerwartet frei geworden sind.
Dieser Prozess beginnt schon beim Pooling, wo für jedes Mitglied des externen Talent-Pools ein ausführliches Dossier angelegt wird. Dieses enthält neben üblichen Standarddaten auch Angaben darüber, was die betreffende Person ursprünglich für den Talent-Pool interessant gemacht hat.
Im Folgeschritt geht es darum, den Kontakt zu den akut interessanten Personen so zu intensivieren, dass das Unternehmen diesen als die beste Wahl unter den heute zahlreichen Alternativen erscheint. Die Einstellungs-verantwortlichen müssen lernen, ihr Angebot mit verkäuferischen Methoden unwiderstehlich zu machen. Dazu gehört die mitunter schmerzhafte Einsicht, dass die Zeit der Schlange stehenden Bewerber vorbei und die Rollen in der Fachkräftekrise vertauscht sind.
Mögliche Wege, um die Talent-Pipeline aufzubauen:
1. Das Unternehmen produziert exklusive Events und Gelegenheiten für die Netzwerkpflege und das Knüpfen von Beziehungen, wie beispielsweise spezielle Mittagessen oder privilegierte Vor-Ort-Besichtigungen.
2. Es präsentiert sich auf den richtigen Branchen-Events und Konferenzen, um gesehen zu werden und am Puls der Branche präsent zu sein.
3. Es ist auf relevanten Social-Media-Plattformen aktiv und stärkt damit seinen Ruf als engagierter und interessierter Arbeitgeber.
4. Es schafft ein Dialoginstrument, das persönliche Verbindungen ermöglicht. Das kann ein Talentmanagement-Software-Paket sein, in dem alle Fäden zusammenlaufen. In ihm können zum Beispiel die Profile und Evaluationen der Kandidaten gespeichert werden, und aus ihm heraus können Mails, Newsletter oder Einladungen versandt werden.
Sind diese Instrumente dauerhaft und intensiv gepflegt aktiv, ist es von der Vakanz zur Anstellung nicht mehr weit, wobei im vorletzten Schritt auf eine belastbare und objektive Eignungsdiagnostik nicht verzichtet werden sollte.
Pools und Pipelines sind ein effizienter Weg, von der üblichen Verzweiflungsrekrutierung unter Zeitdruck wegzukommen. Sie begründen ein strategisches Beziehungsmanagement, mit dem selbst im härtesten Talentumfeld ein schneller Zugriff auf Topkandidaten möglich und die Rekrutierung erfolgreich wird.
Unternehmen, die sowohl extern als auch intern erfolgreich poolen und pipelinen, können aus dem Meistern der Fachkräftekrise einen spürbaren Vorsprung gegenüber dem Wettbewerb machen.
